Samstag, 9. Februar 2008
Die verrücktgewordene Stinkameise
>> Im Gehen fällt mir etwas ein, was ich einmal gelesen habe, von einer bestimmten Ameisenart, einer Stinkameise, die in den Wäldern Westafrikas auf dem Boden lebe. Diese Ameise geht ganz unauffällig auf dem Boden ihrem Ameisengeschäft nach. Sie weiß nichts von dem seltsamen, phantastischen Schicksal, das die Natur ihr zugedacht hat. Es gibt nämlich in diesen Wäldern eine bestimmte Pilzart, die in den Wipfeln der hohen Waldbäume gedeiht. Irgendwann stößt dieser Pilz Millionen von Sporen aus. Sie werden von dem leisesten Lufthauch mitgenommen, werden hierhin und dorthin getrieben und landen schließlich irgendwo auf dem Boden. Einige dieser Sporen fallen nach dem Zufallsprinzip auf Säugetiere und Reptilien, einige auf krabbelnde Insekten. Sie sind vollkommen unschädlich, außer für eine Art: unsere Stinkameise. Eine einzige winzige Pilzspore fällt auf die Stinkameise und wird zu einem Bestandteil ihres Ameisensystems. Sie treibt die Ameise zum Wahnsinn. Der Lebensraum der Stinkameise ist, wie gesagt, der Boden, doch das tödliche Gift der Pilzspore ruft in ihr plötzlich den Wunsch zu klettern hervor. Also verläßt die Stinkameise zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben den Boden und macht sich auf den Weg nach oben. Sie klettert und klettert, immer höher und höher, bis sie nicht weiterklettern kann. Dort, im höchsten Wipfel des Baumes, senkt sie fest und unverrückbar ihre Mandibeln in den letzten Zweig - und stirbt auf der Stelle. In der toten Ameise wächst der Pilz friedlich heran, genährt von Ameisenfleisch, gewärmt von dem Licht des Wipfels. Die Ameise wird aufgezehrt, und ein neuer Pilz wird geboren.

Manchmal, wenn ich auf mein Leben zurückblicke, komme ich mir wie eine verrücktgewordene Stinkameise vor, getrieben von der einen Pilzspore, die mich zufällig traf. Heute, das ahne ich, ist es so weit, meine Mandibeln in die Rinde am Wipfel des Baumes zu senken. <<


Aus: "Die neuen Bekenntnisse", von William Boyd

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